Wenn der Bundeskanzler von Zeitenwende spricht, meinte er in erster Linie die Sicherheitspolitik. Aber auch für die Wirtschaft und den Handel verändert sich die Welt. Wir gehen von einer Krise – der Pandemie – nahtlos zur nächsten – dem Krieg in der Ukraine – über. Haben wir uns das „Neue Normal“ so vorgestellt?
Wir müssen uns eingestehen: Wir sind alle überfordert. In den zwei Jahren Pandemie hat sich so vieles verändert, das Nachbeben kommt erst noch. Nehmen sie das Homeoffice. Bleibt es so, dass wir von zuhause arbeiten? Wir wissen nicht, was davon wirklich bleibt. Stürzen sich die Menschen wieder ins analoge Leben? Oder wird die Kriegsangst uns alle wieder zuhause bleiben lassen, wo wir uns digital einigeln? Vieles ist im Fluss. Ich würde in der aktuellen Situation als Manager keine schwerwiegenden Entscheidungen und große strategische Weichenstellungen vornehmen, sondern erst mal klug abwägen und präventiv vorgehen.
Mit dem Krieg drängen neue Themen auf die Tagesordnung, die jahrelang keine Rolle spielten – Versorgungsprobleme, Preissteigerungen. Die Wirtschaftsforscher rechnen mit anhaltender Inflation bei gleichzeitiger Wirtschaftskrise. Welche Konsequenzen sehen Sie für den Konsum und damit für den Handel?
Hinterher ist man immer schlauer. Aber eigentlich hätten wir mit minimalen statistischen und historischen Kenntnissen wissen müssen, dass so etwas passieren kann. Putins Absichten waren immer klar. Aber wir haben das verdrängt. Wir sind im Wohlstand desensibilisiert worden für Gefahren, die es nun mal auf der Welt gibt. Wir haben an Wandel durch Handel geglaubt. Jetzt sehen wir: Die Welt tickt politisch, nicht nur ökonomisch. Es braucht auch ‚Hard Power‘, also militärische Systeme zur Durchsetzung von Interessen.
Im Fall von Russland hat sich „Wandel durch Handel“ als Illusion erwiesen. Bei China wird das ähnlich sein. Die Abhängigkeit von China als Beschaffungsmarkt und insbesondere als Absatzmarkt ist zugleich ungleich größer. Wie lange können wir es uns leisten, diese Abhängigkeiten zu ignorieren?
Der Vergleich USA-China ist interessant. In den USA hat der Konsum einen Anteil von gut 70 Prozent am BIP. In China kam mit Deng Xiaoping, der die Chinesen reich machen wollte, die Wende im Denken: von 1980 bis 2010 sank der Konsumanteil von 64 auf 49 Prozent und ist aktuell bei 54 Prozent. In China fragen sie sich zuerst: Wieviele Ressourcen bzw. Rohstoffe müssen wir sichern, um Wachstum zu generieren. Die bauen eine riesige Infrastruktur für Schiffe und Transportwege auf. Die amerikanische Sicht, der auch wir anhängen, ist: Wir verkaufen möglichst viel und kümmern uns anschließend darum, wo wir die notwendigen Ressourcen her bekommen. Die Elektromobilität zeigt unsere Naivität leider sehr schön auf.
Wir müssen also mehr wie China werden?
Für mich ist eine Schlüsselfrage für die Zukunft: Was heißt sinnvolles, nachhaltiges Wachstum? Wir sind jetzt in einer Situation, wo wir wieder Wachstum um jeden Preis generieren werden müssen. Grüne Ideen werden erstmal nachrangig sein.
Robert Habeck macht den Bückling vor den Scheichs, weil wir deren Öl brauchen.
Das war bis vor Kurzem unvorstellbar. Wir reden im Moment vor allem anderen über Versorgungssicherheit und steigende Preise, über Weizen und fossile Brennstoffe. Es geht um ‚eat and heat“. Wer den Zugriff auf diese Ressourcen hat, der ist am Drücker. Wir müssen versuchen, sinnvolles, nachhaltiges Wachstum zu generieren, das davon wegkommt. Und das ist sehr anspruchsvoll.
Als die Corona-Krise startete, prognostizierte der eine oder andere Experte, dass die Pandemie uns jetzt innehalten lassen würde und wir als vernünftige Verbraucher mehr denn je nachhaltig einkaufen würden. Jetzt sind wir froh, wenn wir uns die Tomaten und die Hosen noch leisten können.
Das stimmt. Aber Sustainability, insbesondere auch soziale Nachhaltigkeit als Voraussetzung, bleibt auf der Tagesordnung. Ich bin der Meinung, dass es bei diesem Thema sehr auf die Einsicht und Haltung der Verbraucher beim alltäglichen Einkauf ankommt, und wir nicht mehr als nötig staatlich regulieren sollten.
Ohne den Staat gäbe es kein Plastiktütenverbot. Wäre das denn besser?
Wir müssen verhindern, dass wir so dirigistisch wie China werden, dürfen aber auch nicht so unsensibel werden wie die Amerikaner: Deren Ökobekenntnisse sind nicht ehrlich, weil sie sich stets nach dem Shareholder Value richten und die realen Kosten externalisieren. In China kann der Staat nachhaltigen Konsum und sauberes Wirtschaften dagegen theoretisch anordnen. Aber die Partei die entscheidet nach Machtkriterien und kalkuliert im Zweifel ein paar Prozent Lungenkrebspatienten in den Fortschritt ein. In Europa können wir nur appellieren. Aber die Konsumenten sind leider ambivalent. Schauen sie das Wachstum von Shein an. Alle reden von Nachhaltigkeit, aber wenn es Prozente gibt, heißt es „I don’t care“.
Sustainability ist ja nur eine der vielen großen Herausforderungen, vor denen Handel und Konsumgüterindustrie stehen.
Die Geschäftsmodelle und damit die Strukturen des Marktes sind in Transformation. Ich glaube zum Beispiel, dass wir in Mitteleuropa und anderen entwickelten Volkswirtschaften im Fashion-Bereich den Peak erreicht haben. Es wird immer wieder neue Anbieter geben, aber dieser Markt wird insgesamt nicht mehr wirklich wachsen. Demographie lässt grüßen. Trotzdem würde ich vor pauschalen Urteilen warnen. Die Hypermarchés in Frankreich, die Einkaufszentren, die Warenhäuser – alle wurden sie immer wieder totgesagt, und es gibt sie immer noch. Auch die Mitte wird regelmäßig totgesagt, und es gibt sie immer noch.
Sie ist nur woanders.
Genau. Der Markt ist viel fragmentierter. Man darf Urteile nicht nur aus der abstrakten Vogelperspektive fällen. Entscheidend ist meines Erachtens die Mikroperspektive: Auf die Nähe von Anbieten und Kunden kommt es an. Die Frage lautet: was genau messen wir denn? Die Krise ist auch eine Krise der Messgrößen.
Auch der Stationärhandel wird gerne totgesagt. Natürlich konnten die Digitalen im Lockdown massiv zulegen. Bei den 50 Prozent Marktanteil, die wir 2021 im Modebereich hatten, wird es erstmal nicht bleiben. Aber mittelfristig scheint dieser Wert nicht mehr unrealistisch. Halten Sie es für vorstellbar, dass wir irgendwann einmal ausschließlich digital einkaufen werden?
Nein. Vieles in diesem Bereich ist genau besehen Ankündigungsmarketing. Wie machen das denn die Start-ups? Die haben eine kleine, manchmal auch gute Idee und dann wird mit dem Geld von VCs die Werbetrommel gerührt. Da gilt dann nicht EBITDA, sondern EBITDAM – also Gewinn vor Marketingkosten. Und wenn die Nachfrage dann anspringt, kümmern sie sich ums Produkt. Die Deutschen sind da etwas langsamer, weil alles erstmal 100 Prozent gut und sicher sein muss, während die Amerikaner bereits Kasse machen.
Früher haben Unternehmer Firmen gegründet, um Produkte zu verkaufen. Heute gründen sie Firmen, um die Firma zu verkaufen und nach fünf Jahren eine Milliarde zu kassieren.
Das stimmt. Die sogenannte Finanzialisierung greift auch bei uns immer tiefer in die Wirtschaft ein. Start-ups sind trotzdem mega-wichtig. Wirtschaft und Gesellschaft brauchen Menschen, die Unternehmen gründen und groß machen. Ich sehe eher zu wenige Gründer. Der Beamte ist auch bei den Jungen das sympathischere Vorbild. Wir haben da ein Ambitionsproblem.
Dabei gibt es doch auch in der Konsumwirtschaft leuchtende Vorbilder: Amazon, Zalando…
Ich glaube, dass die größten Technologiekonzerne bereits monopolistische Positionen erreicht haben. Da funktioniert das Geldverdienen ziemlich easy. Da geht es heute fast schon um Rentenextraktionen. Die müssen gar nicht mehr viel machen.
Amazon wirkt auf mich aber nicht wie ein Rentner-Konzern, sondern im Gegenteil hochdynamisch. Oder nehmen Sie einen Player wie Shein, der aus dem Nichts kommt und nach wenigen Jahren mit 100 Milliarden bewertet wird.
Hohe Agilität und Rentenextration schließen sich nicht aus, wenn Plattformen und Cloud entsprechend aufgebaut sind. Der Zwang zum Wachstum wird dennoch zu einer Konsolidierung und einer Monopolisierung führen. So wie in China, da hast du noch Superapps wie We-Chat oder Alibaba auf dem Handy, die den Zugang vereinfachen und dadurch monopolisieren. In den USA geht es Richtung Kategorien, und Europa ist noch fragmentiert, aber mit US-Dominanz der ganz Großen. Es wird immer auch Nischen geben, wo man Geschäfte machen kann. Aber ich kenne keinen seriösen Analysten, der sagt, Microsoft oder Apple werden in den nächsten Jahren nicht mehr wachsen. Die gehen dorthin, wo Facebook seit vielen Jahren schon ist: ein Parastaat im Staat.
Einzelhandel findet traditionell ja weniger im Internet als in den Cities statt. Die Corona-Krise hat dort üble Schleifspuren nach sich gezogen. Der Leerstand ist auch in den 1a-Lagen der Großstädte augenfällig. Was wird aus unseren Innenstädten?
Um die 1a-Lagen von Städten wie Berlin, Paris oder Zürich mache ich mir wenig Sorgen. Gerade in Europa haben wir so viele schöne Städte, die im Angebotsmix zusammen mit Einzelhandel eine hohe Attraktivität haben. Aber ich sehe schon, dass es für mittelgroße und kleine Städte nicht so leicht ist.
Was kann der Ladenbetreiber in einer Kleinstadt tun?
Der hängt ganz sicher von der Attraktivität seines Standortes ab. Und diese Attraktivität hängt nicht unwesentlich an der Anwesenheit von florierenden Unternehmen mit wertschöpfenden Arbeitsplätzen und Bildungsinstitutionen sowie am kulturellen und gesellschaftlichen Umfeld. Stichwort soziale Energie.
Das kann der Einzelne kaum beeinflussen. Als Antwort auf die Online-Konkurrenz propagiert der stationäre Handel das Einkaufserlebnis. Dieses Konzept gibt es mittlerweile seit 40 Jahren. Es hat den Abschmelzprozess nicht verhindert. Machen sich die Stationären da etwas vor?
Wir müssen uns ehrlich machen: Viele werden sterben. Ich sehe ungenutzte Potenziale in der Kooperation, auch lokal: Sind Händler bereit, Daten zu teilen? Machen sie gemeinsam Marketing? Schicken Sie den Kunden zum Nachbarn, wenn ein Artikel nicht vorrätig ist? Ich glaube, Kreativität eröffnet Perspektiven. Ich sehe Online Retailing und die immer umfassendere Digitalisierung im Übrigen zunehmend kritisch. Die sozialen Kosten der Convenience-Orientierung werden nirgendwo bilanziert. Was ist der reale Lebensqualitätsgewinn? Und was ist der reale Lebensqualitätsverlust? Es hat die Menschen träge gemacht. Wir werden zu Technokraten. Amazon hat das brillant erkannt und genutzt. Aber die Fülle der sinnlichen Erfahrungen wird wegbeschleunigt mit dem Netz. Das wird soziale Kosten haben. Schauen sie, social media sollte ja die Menschen zusammenbringen. Das Gegenteil ist passiert: Die Menschen vereinzeln und verfeinden sich immer mehr.
Das kann man beklagen. Aber ist es zu ändern? Wo liegt die Lösung?
Ich bin da gar nicht so pessimistisch. Menschen sind Wiederholungstäter und Gewohnheitstiere. Wie hieß es bei Wilhelm Buschs Witwe Bolte: „Und wovon sie besonders schwärmt, wenn es wieder aufgewärmt“. Veränderung ist wichtig. Aber keiner will zuviel Innovation. Vertrauen braucht Vertrautheit. Gegenbewegungen sind da. Eine persönliche Interaktion, gemeinsam Zeit verbringen mit allen Sinnen ist etwas viel Wertvolleres und verankert sich in meinen Gefühlserinnerungen viel nachhaltiger als einfach nur ein Wisch oder ein Knopfdruck auf ein Device.
Dr. David Bosshart ist Inhaber von Bosshart & Partners, Advisory Board Member in Retail und Hospitality und Präsident der Duttweiler-Stiftung. Bosshart war 22 Jahre CEO des GDI Gottlieb Duttweiler Institute for Economic and Social Studies in Rüschlikon, Zürich. Er war Keynote Speaker bei über 2200 internationalen Kongressen, Summits und Foren. Der gelernte Kaufmann und promovierte Philosoph ist Autor und Co-Autor von über 50 Büchern und Studien und mehr als 400 Fachartikeln. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Zukunft des Konsums und gesellschaftlicher Wandel, Management und Kultur, Globalisierung und politische Philosophie.